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Situation von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit und Konfessionslosen

Klaus Waiditschka
Jugendbildung und Sozialarbeit e. V.

Die Ausübung von Religion oder bestimmte religiöse Praktiken werden nur selten von den Teilnehmenden bei internationalen Jugendbegegnungen als ein besonderes Bedürfnis eingefordert. Der eigene Glaube, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionsgemeinschaften oder die innere Distanz zu Religionen werden selten thematisiert und bleiben unausgesprochen, auch wenn sie unseren Werten und Verhaltensweisen zugrunde liegen. Es ist dennoch sinnvoll, diese Themen aus der „versteckten Agenda“ auf die Tagesordnung einer deutsch-polnischen Begegnung zu heben und sie damit sichtbar und bearbeitbar zu machen.

Dafür gibt es gute Gründe:

  • Religionen und Weltanschauungen sind Teil unserer kulturellen Wurzeln. Wo wir den Schwerpunkt bei internationalen Austauschprojekten auf die Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen legen, bleibt dieser unvollständig, wenn wir religiöse Aspekte ausklammern.
  • Die Fragen nach dem Woher und Wohin des eigenen Seins sind existentielle Fragen, die gerade junge Menschen in der Phase des Erwachsenwerdens beschäftigen; diese Suche nach Orientierung wird von ihnen nicht notwendigerweise als eine religiöse Sinnsuche wahrgenommen und ist unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, beschreibt jedoch ein gemeinsames Thema junger Menschen über die Grenzen von Ländern und Kulturen hinaus.
  • Religiöse Praxis und religiöse Vielfalt haben unterschiedlich Ausprägungen in Polen und Deutschland. Auch wenn in der Wahrnehmung der meisten Jugendlichen Gottesdienst und ritualisiertes Gebet eher einen Bestandteil des Familienlebens als eine bewusste Teilnahme am religiösen Leben darstellen1, kann die Unkenntnis oder Nicht-Beachtung solcher Unterschiede zu überraschenden Programmänderungen und möglicherweise zu Konflikten führen.

Ein Beispiel:
Wir fuhren Ende Oktober mit einer deutschen Gruppe zu einer Begegnung nach Polen. Das verabredete Programm hatte weder eine religiöse Thematik noch besondere religiöse Aktivitäten. Nach drei Tagen geschah etwas für die Deutschen seltsames: Immer mehr polnische Teilnehmende verschwanden vom gemeinsamen Programmort in der Bildungsstätte „wegen dringender Familienangelegenheiten“. Zurück blieb eine deutsche Gruppe, die sich über diese seltsame „Epidemie“ wunderte. Erst auf Nachfrage erfuhren wir, dass es in Polen üblich ist, dass die ganze Familie am 1. November (Allerheiligen) gemeinsam auf den Friedhof geht, um die Gräber zu schmücken und der Toten zu gedenken. Diese religiös-familiäre Verpflichtung wog für die polnischen Teilnehmenden schwerer als die gegenüber der deutschen Gruppe eingegangene Verpflichtung des gemeinsamen Programms. Um es nicht zu einem Konflikt kommen zu lassen, entschlossen wir uns, mit der deutschen Gruppe ebenfalls einen Friedhof zu besuchen, um zu sehen und zu erleben, welche Bedeutung der Friedhofsbesuch an diesem Tag in Polen hat und mit welchen Ritualen er verbunden ist. Somit hatten wir die Gelegenheit, einen wichtigen Teil der polnischen Kultur unmittelbar zu erleben und schließlich doch noch und ungeplant über die Bedeutung religiöser Traditionen in beiden Ländern miteinander ins Gespräch zu kommen.


Religiöse Feiertage haben in den unterschiedlichen Konfessionen und Glaubensgemeinschaften eine größere oder geringere Bedeutung, sind mit verschiedenen Ritualen verbunden, und werden zu unterschiedlichen Daten gefeiert: das oben genannte Allerheiligen-Fest liegt z.B. in der orthodoxen Kirche auf dem ersten Sonntag nach Pfingsten. Und auch die Daten von Ostern und Pfingsten weichen dort in den meisten Jahren von denen der Westkirchen ab, Weihnachten sogar in jedem Jahr. Es ist deshalb unbedingt erforderlich, bei der Terminplanung einer Begegnung die möglichen Feiertage zu berücksichtigen und zu klären, ob diese in die Programmgestaltung einbezogen werden oder aber keine Bedeutung für die Teilnehmenden haben. Weil gerade in Gruppen aus Deutschland zunehmend Menschen teilnehmen, die keiner christlichen Kirche, sondern anderen Religionsgemeinschaften angehören, kann es nötig sein, einen interreligiösen Feiertagskalender2 bei der Planung heranzuziehen. Eine besondere Herausforderung stellen Gruppenaktivitäten, Essensplanung und Programmgestaltung dar, wenn gläubige Muslime Teil der Gruppe sind, die Begegnung während des Ramadan3 stattfindet, und die muslimischen Teilnehmenden nicht von der in den meisten muslimischen Traditionen verbreiteten Ausnahme Gebrauch machen, nach der man auf Reisen das Fasten aussetzen und zu einem späteren Zeitpunkt nachholen kann.

Wenn hier von „den meisten muslimischen Traditionen“ die Rede ist, so ist dies ein Anlass, darauf hinzuweisen, dass die konfessionelle Vielfalt im Islam genauso groß ist wie im Christentum. Es lohnt sich also, genau hinzuschauen, nicht nur die Religionsfamilie der Teilnehmenden entscheidet, sondern auch welche Tradition und konfessionellen Ausprägung der jeweiligen Religion. Darüber hinaus gibt es im Judentum, Christentum und Islam jeweils orthodoxe, konservative und liberale Umgangsweisen mit den Heiligen Schriften und den daraus interpretierten Verhaltensnormen; diejenigen, die jeweils eine orthodoxe, konservative oder liberale Haltung haben, sind sich oftmals über die Religionsgrenzen hinweg näher als gegenüber den Angehörigen der eigenen Religion, die in dieser Hinsicht eine andere Einstellung haben.


Ein Beispiel:
Manche muslimischen Frauen tragen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch, um ihr Haar zu verbergen, weil sie dies als eine religiöse Pflicht ansehen. Jüdisch-orthodoxe Frauen verbergen ebenfalls ihr Haar, allerdings nicht mit einem Kopftuch, sondern mit einer Perücke, weshalb es nicht so auffällig ist und von Außenstehenden oftmals nicht bemerkt wird. Beide Gruppen sind sich in diesem Verhalten ähnlicher als den jeweils liberalen Vertreterinnen ihrer eigenen Religionsfamilie.


Religionszugehörigkeit in Polen und in Deutschland:


Polen Deutschland
Römisch-katholische Kirche 87% 29 %
Evangelische Kirchen < 1 % 27 %
Orthodoxe Kirchen 1 % 2 %
sonst. christl. Gemeinschaften < 1 % 1 %
Konfessionsgebundene Muslime < 0,1% 5 %
keine Religionszugehörigkeit 11 % 36%

Es ist aus diesen Zahlen nicht nur zu ersehen, dass die Vielfalt und Verteilung der Religionsgemeinschaften in Deutschland größer ist im Gegensatz zu der relativen Homogenität in Polen, sondern auch, dass sich in Deutschland viel mehr Menschen keiner Religionsgemeinschaft zurechnen. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren allerdings auch in Polen, insbesondere in den großen Städten und unter den jungen Leuten, deutlich angestiegen. Solche Menschen sind keine „Ungläubigen“, denn es ist nicht bekannt, was sie glauben, aber ausgesprochene Atheisten sind auch in dieser Gruppe eine Minderheit. Individueller Glaube und die Zugehörigkeit oder gar Mitwirkung in einer Glaubensgemeinschaft werden von vielen Jugendlichen völlig unabhängig voneinander gesehen; der individuelle Glaube setzt sich oft aus Elementen verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen zusammen. Das Interesse an Sinnfragen ist jedoch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft; gerade für Jugendliche ohne Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft sind Religionen oft interessant und exotisch-reizvoll4.

Methoden zum Umgang mit religiöser Vielfalt

Wenn Sie junge Menschen aus verschiedenen Religionsfamilien, Konfessionen und/oder Religionsgemeinschaften in Ihrer Gruppe haben, darüber hinaus wahrscheinlich auch solche ohne Religionszugehörigkeit, und Sie wollen den Schatz dieser religiösen Vielfalt hervorheben und zum Thema Ihrer Begegnung machen, dann empfehlen wir folgenden Dreischritt:

  • Eigenvergewisserung: Was hat mich religiös geprägt? Was glaube ich heute? Gehöre ich einer religiösen Gemeinschaft an oder nicht? Warum?
  • Suche nach Gemeinsamkeiten in grundlegenden Sinnfragen und religiös geprägten Verhaltensweisen,
  • Hören und Verstehen, Anerkennen und Respektieren von Unterschieden mit dem Ziel einer versöhnten Verschiedenheit.

Materialien auf Deutsch:

Materialien auf Englisch:

Materialien auf Polnisch →

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